Du hast bestimmt schon mal den Spruch “Wer heilt, hat recht.” gehört. Heute möchte ich dir erklären, warum du nicht automatisch aus Behandlungserfolgen Rückschlüsse auf die Ursache der Problematik ziehen kannst. Oder einfach gesagt, nur weil etwas geholfen hat, heißt das nicht automatisch, dass es die Ursache behandelt hat.
Inhaltsverzeichnis
“Wer heilt, hat recht” – klassische Beispiele?
Rückenschmerz und verkürzte Hüftbeuger
Das aktuell mit Abstand am häufigsten angesehene Reel auf meinem Instagram Profil geht über verkürzte Hüftbeuger.
In dem Video sage ich, dass verkürzte Hüftbeuger nicht die Ursache für Rückenschmerzen sind, weil Rückenschmerz viel komplexer ist, als dass man sie auf einen Faktor, wie eine “verkürzten Muskel” zurückführen könnte.
Außerdem sage ich, dass es keinerlei Belege dafür gibt, dass irgendeine Muskellänge mit Rückenschmerzen zusammenhängt.
Jeden einzelnen Tag bekomme ich Kommentare wie:
“Für mich ist das vollkommener Quatsch. Wenn ich Schmerzen im unteren Rücken habe und den Hüftbeuger dehne, dann lassen die Schmerzen sofort nach und sind dann zu 100 % weg.”
“Erzähls meinem Rücken, der damals besser wurde, nachdem ich den Hüftbeuger vorn gezielt gedehnt hab.”
“Hat 20 Jahre Rückenschmerzen, kein Orthopäde und kein Physiotherapeut konnten mir helfen. Jeden Tag, 10 Minuten Liebscher und bracht. Und seitdem habe ich nicht einmal irgendwas gehabt. Weder ein Bandscheibenvorfall noch Hexenschuss noch Rückenschmerzen!!! Wer heilt, hat recht !!!!”
Alternativmedizin
Silvia hat Rückenschmerzen und glaubt nicht wirklich an die klassisch schulische Medizin. Stattdessen ist sie extrem überzeugt von alternativer Medizin. Also geht sie zu einer Energiearbeiterin, die sagt, dass ein schlechter Energiefluss in ihrem Rückenbereich die Ursache für Silvias Rückenschmerzen sei.
Silvia macht über 6 Wochen jeweils 1 Behandlung pro Woche und tatsächlich, ihre Rückenschmerzen sind wie weggeblasen. Also hat die Energiearbeiterin recht gehabt, weil sie ja offensichtlich ihre Rückenschmerzen beseitigt hat, richtig?
Was ist das Problem an “Wer heilt, hat recht?”
Ich will die, meiner Meinung nach, 6 häufigsten Probleme an dieser Behauptung mit dir durchsprechen.
Fehlschluss der Kausalität
Das ist eine typische Denkfalle, die immer wieder auftritt. Und zwar tritt sie auf, wenn man fälschlicherweise denkt, dass nur weil eine Heilung nach einer bestimmten Behandlung auftritt, die Behandlung auch die Ursache für die Heilung war.
Anekdotische Evidenz
Das ist auch eine ganz häufige Geschichte.
Angenommen Silvia von vorhin hat eine Freundin, die zu der Energiearbeiterin gegangen ist und ihre Schmerzen dadurch lindern konnte. Das Problem dabei ist, dass das nicht sonderlich aussagekräftig ist, weil Silvia ja gar nicht weiß, wie viele Leute schon bei der Energiearbeiterin waren, denen es danach NICHT besser ging.
Das passt auch schon direkt zum nächsten Problem.
Selektive Wahrnehmung:
Bei selektiver Wahrnehmung geht es darum, dass man sich nur auf Dinge konzentriert, die mit der eigenen Überzeugung übereinstimmen und die anderen Dinge ignoriert.
Lass uns dazu mal einen der Instagram Kommentare von vorhin anschauen:
“Jeden Tag, 10 Minuten Liebscher und bracht. Seitdem habe ich nicht einmal irgendwas gehabt. Weder ein Bandscheibenvorfall noch Hexenschuss noch Rückenschmerzen!!! Wer heilt, hat recht !!!!”
Was ist mit all den Leuten, die Liebscher & Bracht Übungen gemacht haben und danach keine Schmerzverbesserung hatten. Oder was ist mit all den Leuten, die nach den Übungen sogar mehr Schmerzen hatten als davor? Diese Fälle werden natürlich ignoriert.
Bitte nicht falsch verstehen, das hat jetzt nichts mit Liebscher & Bracht zu tun. Ich nehme das jetzt nur als Beispiel, weil sie im Kommentar erwähnt wurden. Du könntest Liebscher & Bracht auch durch irgendeine andere Therapiemethode tauschen.
Placebo-Effekt:
Das ist auch noch ein sehr, sehr großer Punkt, der häufig unterschätzt wird. Unsere Psyche hat einen enorm großen Effekt darauf, ob eine Therapie anschlägt oder nicht.
Wenn wir mal kurz Silvias Beispiel von vorhin nehmen: Silvia ist ja überhaupt nicht überzeugt von Schulmedizin. Wenn sie dennoch zu einem “normalen” Arzt geht und er ihr ein Medikament verschreibt, dann wird das Medikament nicht so stark oder eventuell sogar überhaupt nicht wirken, wenn sie nicht von der Art der Medizin überzeugt ist. Überzeugt die Energiearbeiterin Silvia hingegen von einem Mittel aus der Homöopathie, könnte dieses helfen, obwohl dessen Wirksamkeit widerlegt ist.
Dazu gibt es auch ganz spannende Untersuchungen, bei denen Leute, die wirklich operiert wurden mit Leuten verglichen wurden, die nur eine Schein-OP bekommen haben.
Eine Schein-OP wäre z. B. dass man nur die Haut an der Stelle aufschneidet und wieder zunäht, wo die OP tatsächlich stattfinden würde. Dann zeigt man den Leuten im Anschluss noch Röntgenbilder, auf denen man z. B. ein neues Kniegelenk sieht (obwohl die Bilder eigentlich von einem anderen Menschen sind).
Die Ergebnisse sind verrückt, weil man bei ganz vielen orthopädischen Beschwerden hier keinen Unterschied zwischen einer echten OP und einer Schein-OP feststellen kann. Und die Ergebnisse liegen zu einem großen Teil daran, dass die Patienten einfach daran geglaubt haben!
Wenn dich das näher interessiert, schau dir gerne mal die Studie von Louw et al. aus dem Jahre 2017 an.
Bestätigungsfehler (Confirmation Bias)
Hier geht es darum, dass wir Menschen eine Tendenz dazu haben, uns Informationen da zu suchen, wo wir höchstwahrscheinlich auf Bestätigung unserer Glaubenssätze treffen.
Angenommen du hast eine “Fehlstellung” im Fuß und glaubst, dass das die Ursache für deine Knieschmerzen ist. Zu wem gehst du dann? Na klar – zum Orthopäden.
Was wird der Orthopäde wahrscheinlich bestätigen? Dass du eine Fehlstellung im Fuß hast und das die Ursache für deine Knieschmerzen ist.
Du wärst damit wahrscheinlich nicht zur Energiearbeiterin von Silivia gegangen, weil sie bestimmt eine andere Ursache gefunden hätte, die nicht mit deiner Überzeugung übereinstimmt.
Natürlicher Heilungsverlauf
Die Fähigkeit unseres Körpers, mit Schmerzen oder Verletzungen umzugehen, sich zu regenerieren und anzupassen, wird häufig unterschätzt.
Lass uns dazu gerne wieder das Beispiel der akuten Rückenschmerzen von Silvia nehmen. Wir wissen mittlerweile, dass akute Rückenschmerzen innerhalb von 6 Wochen in der Regel sehr, sehr viel besser werden – unabhängig davon, was wir machen. Deswegen wird in der Akutphase einfach empfohlen, aktiv zu bleiben und Wissen über Rückenschmerzen aufzubauen bzw. zu vermitteln. Das zeigt die Studie von Foster et al. aus dem Jahr 2018.
Dass Silvias Rückenschmerzen besser wurden, lag also nicht an der Energietherapie, sondern höchstwahrscheinlich einfach nur am Placebo-Effekt und dem natürlichen Heilungsverlauf.
Meine Empfehlung für dich
Ich weiß, du denkst dir jetzt vielleicht: “Klasse Gino, alles was du machst, ist zu kritisieren. Du sagt immer, dass Dinge nicht so funktionieren, wie sie beschrieben werden.”
Ich verstehe die Frustration sehr gut. Gleichzeitig weiß ich, dass es sehr schwer ist, als Laie einschätzen zu können, ob die Autoritätsperson vor dir jetzt Quatsch erzählt, oder nicht.
Es gibt ein paar Punkte, die ich dir aus diesem Artikel mitgeben möchte:
Nur, weil eine Therapiemethode funktioniert, heißt das nicht, dass sie die Ursache behandelt hat oder dass die zugrundeliegende Behauptung korrekt ist. Lass uns dazu nochmal das Hüftbeuger-Beispiel von vorhin nehmen. Können Dehnübungen für die Hüftbeuger gegen Rückenschmerzen helfen? Ja, 100 %! Heißt das, dass deine Hüftbeuger verkürzt waren und jetzt weniger verkürzt sind? Nein. Diese Aussage ist falsch.
Bitte versuche immer kritisch zu sein, auch wenn du eine Autoritätsperson vor dir hast.
Frage höflich nach Belegen für gewisse Behauptungen. Wenn dir dein Therapeut sagt, dass er deine Faszienverklebungen im Rücken löst, könntest du zum Beispiel fragen, wie Faszien verkleben können und ob man das irgendwie nachweisen kann (rein aus Interesse).
Oder wenn ich mich in einer solchen Situation befinde, sage ich gerne: “Ich bin ein totaler Theorie- und Wissenschafts-Freak. Ich finde das Thema total spannend. Kannst du mir da irgendwelche Studien zeigen, bei denen ich das nochmal in Ruhe nachlesen könnte, damit ich es besser verstehen kann?” Wenn du schwammige Antworten oder keinerlei Belege außer “meine Erfahrung” bekommst, dann wäre ich sehr skeptisch.
Hinterfrage dich selbst:
- Schließt du gerade von einer einzelnen Person auf dich selbst (anekdotische Evidenz)?
- Ignorierst du Gegenbeispiele zu deiner aktuellen Sichtweise (selektive Wahrnehmung)?
- Berücksichtigst du mehrere Quellen, oder suchst du nur an Orten, die dich in dem bestätigen, was du ohnehin schon denkst (Bestätigungsfehler)?
- Bist du dir dessen bewusst, dass der Behandlungserfolg von deinen Überzeugungen und dem natürlichen Behandlungsverlauf beeinflusst werden kann?
Ich denke du hast nun einen guten Einblick bekommen, warum man die Aussage “Wer heilt, hat recht” nicht so einfach hinnehmen sollte.
Wir haben ja gerade viel über das Thema Rückenschmerzen gesprochen. Es wird sehr oft nach der besten Übung bei Rückenschmerzen gefragt. Warum es diese aber überhaupt nicht gibt, erfährst du in diesem Artikel.
Literatur
- Foster, N. E., Anema, J. R., Cherkin, D., Chou, R., Cohen, S. P., Gross, D. P., Ferreira, P. H., Fritz, J. M., Koes, B. W., Peul, W., Turner, J. A., Maher, C. G., & Lancet Low Back Pain Series Working Group (2018). Prevention and treatment of low back pain: evidence, challenges, and promising directions. Lancet (London, England), 391(10137), 2368–2383. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(18)30489-6
- Louw, A., Diener, I., Fernández-de-Las-Peñas, C., & Puentedura, E. J. (2017). Sham Surgery in Orthopedics: A Systematic Review of the Literature. Pain medicine (Malden, Mass.), 18(4), 736–750. https://doi.org/10.1093/pm/pnw164