Warum habe ich Rückenschmerzen? Im Internet gibt es viele Blog-Artikel oder Videos, in denen behauptet wird, dass ein einzelner Muskel für die Schmerzen verantwortlich ist. Beispiele wären: der verkürzte Hüftbeuger, der schwache Gesäßmuskel, der verspannte Rückenstrecker oder, oder, oder. Die Liste ist sehr lang. In diesem Artikel nehmen wir mal auseinander, warum du daran nicht glauben solltest.
Inhaltsverzeichnis
Ursache von Rückenschmerzen – wo kommen diese Annahmen her?
Diese Annahmen basieren auf einem sehr eindimensionalen Verständnis von Schmerzen. Es wird zum einen davon ausgegangen, dass es eine “optimale” Art und Weise gibt, wie sich der Körper bewegen sollte. Wenn man davon abweicht (indem man zum Beispiel viel sitzt, Plattfüße hat, einen Schulterschiefstand hat etc.) dann wird der Körper einseitig mehr belastet.
Das soll dann anscheinend zu übermäßiger Abnutzung führen und dann Schmerzen auslösen. Dieses Modell nennt sich “Kinesiopathologisches Modell” (Kinesio kommt von Bewegung und Pathologisch heißt, dass etwas nicht normal ist.)
Zum anderen ist die Grundlage dieser Annahmen ja, dass man eine klare Ursache für die Schmerzen feststellen kann (eben z. B. ein zu schwacher Po-Muskel).
Erst, wenn diese Ursache behoben wird, gehen die Schmerzen weg. Dieses Modell nennt sich “Biomedizinisches Krankheitsmodell”.
Warum habe ich Rückenschmerzen – was sagt die Wissenschaft dazu?
Also dann lass uns erst mal die erste Annahme anschauen: Es gibt eine beste Art, sich zu bewegen und wenn man davon abweicht, dann gibt es Probleme.
Lass uns hier mal ein paar typische Beispiele nehmen: der Hüftbeuger.
Wenn der Hüftbeuger verkürzt ist, dann zieht er das Becken mehr in eine Vorwärtskippung und löst dadurch ein Hohlkreuz aus. Die Lösung dafür wäre: Hüftbeuger dehnen und Po stärken, weil der Po das Becken ja eher wieder aufrichtet und eine neutralere Wirbelsäulenposition verursacht.
Wie ich auch schon im Artikel zum Thema Hohlkreuz erklärt habe, stimmt diese Annahme faktisch nicht (auch wenn sie biomechanisch total logisch erscheint).
Hier gibt es zum Beispiel die Studie von Herrera et al. aus dem Jahr 2021, die genau das widerlegt. Aber bevor mir hier jetzt jemand vorwirft, dass ich nur eine Studie raussuche – hier gibt es noch viele mehr, wie zum Beispiel die von Heino et al. 1990, Schache et al. 2000 oder Mills et al. 2015.
Wie steht’s um die Annahme, dass es eine klare Ursache für die Schmerzen geben muss, die man beheben muss, bevor die Schmerzen weggehen?
Auch hier wissen wir mittlerweile, dass es von deutlich mehr Faktoren abhängig ist, ob du und wie stark du Schmerzen hast.
Hier mal eine Abbildung, die dir das verdeutlicht:
Falls du mein Buch “Pain Free Athlete” schon gelesen hast, dann kennst du diese Abbildung schon. Es geht darum, dass deine bisherigen Erfahrungen mit Rückenschmerzen, dein soziales Umfeld, deine Glaubenssätze wie schlimm die Schmerzen wohl sind, dein Wissen über Rückenschmerzen, deine Erwartungen, wie lang die Schmerzen womöglich da sein werden etc. deine Schmerzerfahrung sehr stark beeinflussen.
Es kann zum Beispiel sein, dass du einen Bandscheibenvorfall in der Lendenwirbelsäule auf dem MRT Bild siehst, aber überhaupt keine Schmerzen hast (Brinjikji et al. 2015).
Oder, dass man deine Muskelkraft der Gesäßmuskulatur rechts und links vergleicht und rechts vieeel stärker ist.
Warum habe ich Rückenschmerzen – Bedeutung für dich
Arten von Rückenschmerzen: spezifische oder unspezifische Rückenschmerzen?
Für dich bedeutet das in erster Linie, dass du dich höchstwahrscheinlich entspannen kannst. Gerade beim Thema Rückenschmerzen ist es so, dass 90-95 % der Beschwerden den unspezifischen Rückenschmerzen zuzuordnen sind. Das bedeutet, dass wir nicht genau wissen, woher sie kommen UND dass es keine spezifischen Tests gibt, die irgendeine Ursache feststellen könnten (Bardin et al. 2017).
Und bei den Fällen, bei denen es sich um eine klare Ursache handelt, geht es NICHT um irgendeinen Muskel. In diesen Fällen geht es vielmehr um ernsthafte Erkrankungen, die ärztlich abgeklärt werden müssen, wie z. B. schwere Entzündungen oder ein Tumor im Bereich der Wirbelsäule.
Des Weiteren kann auch noch differenziert werden, ob es sich eher um akute Rückenschmerzen oder um chronische Rückenschmerzen handelt. Im akuten Zustand kann es natürlich mal vorkommen, dass eine Überanspruchung eines Muskels gewisse Symptome wie Schmerz im unteren Rücken auslöst. Dieser Schmerz ist dann normalerweise aber sehr kurzfristig.
Falls die Schmerzen bereits chronisch sind, also vereinfacht gesagt länger als zwölf Wochen bestehen, sind die Ursachen weitaus komplexer.
Bitte merk dir auch für die Zukunft. In den meisten Fällen ist ein angespannter oder schmerzhafter Muskel nur das Ergebnis von Schmerzen, nicht die Ursache. Also der Muskel macht einfach dicht, um dich zu schützen sozusagen.
Außerdem heißt das, und das ist etwas sehr Schönes, dass es enorm viele Dinge gibt, die dir bei deinen Schmerzen im Rücken helfen können. Denn es gibt eben keine beste Art sich zu bewegen, um Rückenschmerzen vorzubeugen und eine schwache Muskulatur ist auch nicht die Ursache für die Schmerzen.
Deswegen kannst du mit Yoga, Pilates, Joggen, Radfahren, Schwimmen, Klettern etc. deine Rückenschmerzen verbessern!
Wichtig ist, dass deine Schmerzen durch die Aktivität nicht signifikant stärker werden sollten.
Darüber hinaus solltest du darauf achten, dass die Schmerzen mit der Zeit weniger werden. Was die Aktivität angeht, empfiehlt es sich, das Volumen, die Intensität und die Häufigkeit der Belastung in kleinen Schritten zu steigern (vermeide also große Sprünge).
Was auch hilft, ist, mehr über Rückenschmerzen zu verstehen. Häufig ist es nämlich so, dass gerade solche Fehlinformationen wie “dein Rücken ist zu schwach”, “dein Becken ist schief” etc. dir ja suggerieren, dass etwas mit dir nicht stimmt. Und das führt bei einigen Menschen dazu, dass Schmerzen stärker oder sogar chronisch werden.
Ich hoffe, du hast durch den Artikel verstanden, warum die Frage “Warum habe ich Rückenschmerzen” nicht so einfach zu beantworten ist und warum ein einzelner Muskel wohl nicht die Ursache ist.
Am besten liest du dir jetzt noch den Artikel durch, in dem du lernst, warum ein Hohlkreuz NICHT die Ursache für Rückenschmerzen ist.
Literatur
- Bardin, L. D., King, P., & Maher, C. G. (2017). Diagnostic triage for low back pain: a practical approach for primary care. The Medical journal of Australia, 206(6), 268–273. https://doi.org/10.5694/mja16.00828
- Brinjikji, W., Luetmer, P. H., Comstock, B., Bresnahan, B. W., Chen, L. E., Deyo, R. A., Halabi, S., Turner, J. A., Avins, A. L., James, K., Wald, J. T., Kallmes, D. F., & Jarvik, J. G. (2015). Systematic literature review of imaging features of spinal degeneration in asymptomatic populations. AJNR. American journal of neuroradiology, 36(4), 811–816. https://doi.org/10.3174/ajnr.A4173
- Heino, J. G., Godges, J. J., & Carter, C. L. (1990). Relationship between Hip Extension Range of Motion and Postural Alignment. The Journal of orthopaedic and sports physical therapy, 12(6), 243–247. https://doi.org/10.2519/jospt.1990.12.6.243
- Herrera, M. C., Amasay, T., & Egret, C. (2021). Lack of Correlation Between Natural Pelvic Tilt Angle with Hip Range of Motion, and Hip Muscle Torque Ratio. International journal of exercise science, 14(1), 594–605.
- Mills, M., Frank, B., Goto, S., Blackburn, T., Cates, S., Clark, M., Aguilar, A., Fava, N., & Padua, D. (2015). EFFECT OF RESTRICTED HIP FLEXOR MUSCLE LENGTH ON HIP EXTENSOR MUSCLE ACTIVITY AND LOWER EXTREMITY BIOMECHANICS IN COLLEGE-AGED FEMALE SOCCER PLAYERS. International journal of sports physical therapy, 10(7), 946–954.
- Schache, A. G., Blanch, P. D., & Murphy, A. T. (2000). Relation of anterior pelvic tilt during running to clinical and kinematic measures of hip extension. British journal of sports medicine, 34(4), 279–283. https://doi.org/10.1136/bjsm.34.4.279