Hast du Rückenschmerzen durch Hohlkreuz? Das hört man immer wieder von Ärzt:innen und Therapeut:innen. Ich kann dich jedoch beruhigen, das stimmt so nicht. Wenn du wissen möchtest, warum das ein Mythos ist und was die Wissenschaft dazu sagt, dann bist du hier genau richtig.
Inhaltsverzeichnis
Wie stellt man ein Hohlkreuz fest?
In der Regel wird es rein durch Beobachtung gemacht, also jemand schaut dich an und sagt dann, oh, ganz klar ein Hohlkreuz.
Dass diese Art der Befundung nicht sonderlich gezielt und aussagekräftig ist, weißt du mittlerweile wahrscheinlich, zumindest wenn du schon ein paar meiner Artikel gelesen hast.
Ansonsten wird in der Orthopädie oder Physiotherapie häufig noch die Beckenkippung analysiert. Dabei wird eine imaginäre Linie zwischen der sogenannten Spina Iliaca Anterior Superior und der Spina Iliaca Posterior Superior gezogen.
Das könnte man auch tatsächlich physisch mit einem Maßband oder ähnlichem machen und dann unterteilt man in drei Hauptkategorien.
Wir hätten einmal den Anterior Pelvic Tilt (APT), also eine Beckenkippung nach vorne und das ist auch diese “Hohlkreuzposition”, weil eine Beckenkippung nach vorne automatisch mit einer Streckung der Lendenwirbelsäule (Hyperlordose) und somit einem Holkreuz einhergeht.
Dann hätten wir noch den Neutral Pelvic Tilt (NPT) also eine neutrale Position und den Posterior Pelvic Tilt (PPT) also eine Beckenkippung nach hinten oder andere sagen auch Beckenaufrichtung dazu.
Aber auch hier muss man sagen, dass es anatomische Variationen gibt, weshalb es wirklich super schwierig ist in der Praxis zu sagen okay deine Beckenposition ist nicht aufrecht, du hast definitiv ein Hohlkreuz.
Für die nächste Frage gehen wir einfach mal davon aus, dass du ein “Hohlkreuz” hast..
Was sind die vermeintlichen Probleme eines Hohlkreuzes?
Am häufigsten wird hier das sogenannte Lower Cross Syndrom genannt. Das ist eine Beobachtung, die der Dr. Wladimir Janda im Jahre 1979 gemacht hat.
Er hat in seiner Arbeit festgestellt, dass die Beckenposition und damit eben auch die Position der Wirbelsäule von vier entgegen spielenden Muskelgruppen abhängig ist.
Da hätten wir einmal die Bauchmuskulatur und die Gesäßmuskulatur, die zusammenarbeiten, die laut Janda zu schwach sind. Entgegengesetzt dazu die Rückenmuskulatur, genauer die Rückenstrecker und die Hüftbeuger, die laut Janda zu verkürzt sind.
Dieses muskuläre Ungleichgewicht soll dann zu einem Hohlkreuz führen.
Biomechanisch ergibt das alles eigentlich total viel Sinn, dass man sagt, okay, die Gesäßmuskulatur und die Bauchmuskulatur richten das Becken auf und wenn die zu schwach sind, dann können sie das nicht tun.
Die Hüftbeuger und die Rückenstrecker, die kippen hingegen das Becken aufgrund von Verspannungen nach vorne.
Dieses Lower Cross Syndrome soll dann bei den Leuten zu Rückenschmerzen, ISG-Schmerzen, Bewegungsdysfunktionen etc. führen.
Was sagt die Wissenschaft dazu?
Hier liefere ich dir jetzt drei sehr große Gegenargumente. Fangen wir direkt mit dem ersten Gegenargument an, welches lautet:
Ein Hohlkreuz ist Teil einer normalen Körperhaltung!
Das zeigt zum Beispiel die Arbeit von Herrington aus dem Jahr 2011, der sich angeschaut hat, ob es einen Unterschied in der Lendenwirbel- bzw. Beckenposition zwischen Leuten mit Rückenschmerzen bzw. ohne Rückenschmerzen gibt. Er konnte keinen bedeutenden Unterschied feststellen.
Lustigerweise zeigt zum Beispiel das Paper von Chun et al., dass Leute mit Schmerzen im Rücken ein weniger ausgeprägtes Hohlkreuz haben. Das Hohlkreuz ist also keine Fehlstellung, sondern einfach nur eine ganz normale Position, die fast alle von uns im Stehen haben.
Rückenschmerzen durch Hohlkreuz – gibt es einen Zusammenhang?
Mit dieser Frage haben sich zum Beispiel Laird et al. in ihrer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2014 beschäftigt. Die Ergebnisse zeigen, dass es keinen Zusammenhang gibt.
Um den Punkt aber nochmal ein bisschen mehr zu unterstreichen, es gibt auch noch die Übersichtsarbeit von Swain et al., die keinerlei Zusammenhang von irgendeiner Körperhaltung und Rückenschmerzen feststellen konnte.
Das war Gegenargument Nummer 2, kommen wir nun zum letzten Gegenargument.
Das Lower Cross Syndrom ist ein Mythos!
Fangen wir an mit der schwachen Bauchmuskulatur. Es gibt keinerlei Zusammenhang zwischen der Stärke der Bauchmuskulatur und der Position des Beckens bzw. der Lendenwirbelsäule. Das haben schon Youdas et al. (1996) und sogar Walker et al. im Jahre 1987 nachgewiesen.
Wie du siehst, das sind wirklich keine neuen Informationen. Wir wissen das seit über 35 Jahren und dennoch hört man das tagtäglich in der Praxis.
Wie sieht es aus mit der schwachen Gesäßmuskulatur?
Es gibt keinerlei Zusammenhang zwischen der Stärke der Gesäßmuskulatur und der Position der Lendenwirbelsäule.
Mills et al. haben sich im Jahr 2015 zum Beispiel angeschaut, ob Leute mit verkürzten Hüftbeugern oder Leute ohne verkürzte Hüftbeuger mehr Kraft in der Gesäßmuskulatur haben und sie konnten keinerlei Unterschied zwischen den Gruppen feststellen.
Okay, um fair zu sein, die haben sich ja nur die Länge der Hüftbeuger angeschaut und nicht die Position der Lendenwirbelsäule überprüft. Aber genau das haben Herrera et al. in ihrer Studie gemacht und sie konnten keinerlei Zusammenhang zwischen der Stärke der Gesäßmuskulatur und der Position der Lendenwirbelsäule feststellen.
So, und da wir ja gerade über verkürzte Hüftbeuger gesprochen haben, lasst uns damit direkt weitermachen.
Verkürzte Hüftbeuger haben keinerlei Einfluss auf die Position des Beckens oder der Lendenwirbelsäule. Das haben zum Beispiel Heino et al. im Jahr 1990 schon nachweisen können.
Selbst wenn man sich das in der Dynamik anschaut, was Schache et al. im Jahr 2000 in ihrer Studie gemacht haben, kann man keinen Zusammenhang zwischen der Länge der Hüftbeuger und der Beckenposition bzw. Lendenwirbel sollen Positionen feststellen.
Bevor jetzt jemand um die Ecke kommt und sagt, ja Gino, das weiß man doch mittlerweile. Die Hüftbeuger sind zu schwach und deswegen kurz, man muss die Muskeln kräftigen.
Da darf ich nochmal die Studie von Herrera et al. erwähnen.
Sie haben sich nämlich nicht nur die Kraft der Hüft-Extensoren angeschaut, sondern auch die Kraft in Hüftbeugung, also Hüftbeuger, aber auch Hüftabduktion, Adduktion, Innenrotation und Außenrotation. Bei allen gibt es keinerlei Zusammenhang zwischen der Kraft in diesen Bewegungen und der Lendenwirbelsäulenposition.
Um diesen Zahn der verkürzten Hüftbeuger endgültig zu ziehen, es gibt eine sehr interessante Untersuchung von Kumantakis et al. aus dem Jahr 2021.
In der Studie wurde sich angeschaut, ob es irgendeinen Einfluss auf die Becken- bzw. Lendenwirbelposition hat, je nachdem wie viel die Leute sitzen. Drei Mal darfst du raten. Nein, es gibt keinen Zusammenhang.
So, und was ziehen wir jetzt aus der ganzen Geschichte?
Du brauchst dir nicht sonderlich Gedanken über dein Hohlkreuz zu machen. Das ist keine sogenannte “Fehlhaltung”, sondern eine ganz normale Variation deiner Haltung. Diese ist höchst variabel, habe ich auch schon in anderen Artikeln erklärt, und scheint nicht mit Schmerzen zusammenzuhängen.
Aber Gino, wenn ich diese Anti-Hohlkreuz-Übung mache, habe ich danach weniger Schmerzen, also sie helfen ja. Hey, ganz ehrlich, mega cool, mach die Übung weiter. Der Grund ist aber nicht, dass dein Hohlkreuz dadurch weggeht.
Es liegt wahrscheinlich viel eher daran, dass du dich mehr bewegt hast, dass du dich anders bewegt hast oder, dass du dich aus einer Position rausbewegt hast, die aktuell eventuell schmerzhaft ist.
Außerdem hängt es mit Sicherheit auch mit deinen Glaubenssätzen oder Erwartungen an diese Übungen zusammen. Das bedeutet, dass wenn du mit einer positiven Erwartung an die Übungen rangehst, dass sie dir wahrscheinlicher helfen werden.
Und natürlich, wenn diese Hohlkreuzposition, also die Streckung der Wirbelsäule, bei dir aktuell Beschwerden verursacht, dann ändere deine Körperhaltung für einen gewissen Zeitraum.
Das “Hohlkreuz” an sich ist aber überhaupt nichts Schlimmes, was unbedingt verändert werden muss. Wenn dir also nochmal jemand erzählen sollte, du hast Rückenschmerz durch Hohlkreuz, denk dran, das ist ein Mythos.
Interessierst du dich für das Thema Rückenschmerz? Dann empfehle ich dir den Artikel “Richtig schlafen bei Rückenschmerzen (wissenschaftlich analysiert)“.
Literatur
- Chun, S. W., Lim, C. Y., Kim, K., Hwang, J., & Chung, S. G. (2017). The relationships between low back pain and lumbar lordosis: a systematic review and meta-analysis. The spine journal : official journal of the North American Spine Society, 17(8), 1180–1191. https://doi.org/10.1016/j.spinee.2017.04.034
- Heino, J. G., Godges, J. J., & Carter, C. L. (1990). Relationship between Hip Extension Range of Motion and Postural Alignment. The Journal of orthopaedic and sports physical therapy, 12(6), 243–247. https://doi.org/10.2519/jospt.1990.12.6.243
- Herrera, M. C., Amasay, T., & Egret, C. (2021). Lack of Correlation Between Natural Pelvic Tilt Angle with Hip Range of Motion, and Hip Muscle Torque Ratio. International journal of exercise science, 14(1), 594–605.
- Herrington L. (2011). Assessment of the degree of pelvic tilt within a normal asymptomatic population. Manual therapy, 16(6), 646–648. https://doi.org/10.1016/j.math.2011.04.006
- Koumantakis, G. A., Malkotsis, A., Pappas, S., Manetta, M., Anastopoulos, T., Kakouris, A., & Kiourtsidakis, E. (2021). Lumbopelvic sagittal standing posture associations with anthropometry, physical activity levels and trunk muscle endurance in healthy adults. Hong Kong physiotherapy journal : official publication of the Hong Kong Physiotherapy Association Limited = Wu li chih liao, 41(2), 127–137. https://doi.org/10.1142/S1013702521500128
- Laird, R. A., Gilbert, J., Kent, P., & Keating, J. L. (2014). Comparing lumbo-pelvic kinematics in people with and without back pain: a systematic review and meta-analysis. BMC musculoskeletal disorders, 15, 229. https://doi.org/10.1186/1471-2474-15-229
- Mills, M., Frank, B., Goto, S., Blackburn, T., Cates, S., Clark, M., Aguilar, A., Fava, N., & Padua, D. (2015). EFFECT OF RESTRICTED HIP FLEXOR MUSCLE LENGTH ON HIP EXTENSOR MUSCLE ACTIVITY AND LOWER EXTREMITY BIOMECHANICS IN COLLEGE-AGED FEMALE SOCCER PLAYERS. International journal of sports physical therapy, 10(7), 946–954.
- Schache, A. G., Blanch, P. D., & Murphy, A. T. (2000). Relation of anterior pelvic tilt during running to clinical and kinematic measures of hip extension. British journal of sports medicine, 34(4), 279–283. https://doi.org/10.1136/bjsm.34.4.279
- Swain, C. T. V., Pan, F., Owen, P. J., Schmidt, H., & Belavy, D. L. (2020). No consensus on causality of spine postures or physical exposure and low back pain: A systematic review of systematic reviews. Journal of biomechanics, 102, 109312. https://doi.org/10.1016/j.jbiomech.2019.08.006
- Walker, M. L., Rothstein, J. M., Finucane, S. D., & Lamb, R. L. (1987). Relationships between lumbar lordosis, pelvic tilt, and abdominal muscle performance. Physical therapy, 67(4), 512–516. https://doi.org/10.1093/ptj/67.4.512
- Youdas, J. W., Garrett, T. R., Harmsen, S., Suman, V. J., & Carey, J. R. (1996). Lumbar lordosis and pelvic inclination of asymptomatic adults. Physical therapy, 76(10), 1066–1081. https://doi.org/10.1093/ptj/76.10.1066